Ein Beitrag von Vikar Andreas Hoenemann
Aufwachen und Aufstehen – Das sind bei mir zwei verschiedene Paar Schuh. Es kann eine ganze Weile dauern, bis ich meinen trägen Körper aus dem Bett bequeme. Einen kräftigen Schub in diesem allmorgendlichen Prozess gibt mir meine innere To-Do Liste, die mir die notwendigen Erledigungen des Tages aufzeigt. Bevor ich mich schließlich an die Arbeit mache, nehme ich mir ein wenig Zeit, um im Gebet und im Bibellesen bewusst mit Gott in den Tag zu starten. Doch in letzter Zeit fiel es mir immer schwerer, vor Gott zur Ruhe zukommen. Während dieser Zeit drehten sich nämlich viele Gedanken und Gefühle um Aufgaben und Sorgen des Alltags. Im weiteren Verlauf schoss mir zusätzlich all möglicher Nonsens durch den Kopf. Dementsprechend frustriert war ich am Ende, weil sich die Stille Zeit ziemlich vergeudet anfühlte. Denn durch die Zerstreutheit meines Herzen leierte ich letztlich die Gebete lustlos und kalt herunter.
Diese Zerstreutheit des Herzen macht nach Luther die ganze Zeit mit Gott madig, denn durch die Zerstreutheit des Herzens bleiben wir im Gebet bei uns selber und treten nicht in Kontakt mit Gott. In einem Brief an den Barbier Peter Beskendorf schreibt er, was einem im Angesicht dieser Zerstreutheit eine Hilfe sein kann. Um die Gedanken und Gefühle des eigenen Herzens auf Gott ausrichten, muss zunächst das Herz „erwärmt“ werden. Erst wenn das Herz erwärmt ist, können wir offen und aufrichtig vor Gott uns aussprechen. Nun fragt man sich, wie sieht ein solches „Erwärmen“ des Herzens aus? Eine Möglichkeit, das Herz zu erwärmen, besteht nach Luther in der Bibelmeditation, d.h. ich nehme mir einen Bibelvers und sinne über ihn eine Zeitlang nach. Und wie sieht wiederum dieses Nachsinnen über einen Bibelvers aus? Auch hier gibt uns Luther eine klarer Anleitung. Er verdeutlicht die Bibelmeditation an dem Bild eines Kranzes. Wenn ich einen Kranz drehe, gilt meine ungeteilte Aufmerksamkeit dieser Aufgabe. Ich nehme einen biegsamen Ast und drehe ihn zu einem Kreis. Danach flechte ich weitere Äste in das Grundgerüst mit hinein. Diese Vorgehensweise überträgt Luther auf das Nachsinnen eines Bibelverses. Wir sollen einen Vers sinnbildlich zu einem „vierfachen Kränzlein“ drehen, d.h. wir sollen einen Vers aus viererlei Weisen betrachten.
Bevor wir aber den Vers aus viererlei Weisen betrachten, sollen wir den Bibelvers für uns verinnerlichen, indem wir ihn mehrmals durchlesen. Danach beginnen wir unser „vierfaches Kränzlein“ zu drehen. Als Erstes betrachten wir den Vers als „Lehrbüchlein“, um in eigenen Worten eine Antwort für uns auf die Frage zu entdecken: „Was habe ich nach der Aussage des Textes zu glauben oder zu tun?“ Als Zweites betrachten wir den Vers als „Dankbüchlein“, indem wir uns die Frage stellen: „Wie kann ich Gott aufgrund des Textes loben und danken?“ Beim dritten Durchlauf sehen wir im Vers ein „Beichtbüchlein“, dass uns auffordert, uns selbst zu fragen: „Was kann ich aufgrund des Textes Gott gegenüber bekennen?“ Und zuletzt nähern wir uns dem Vers als ein „Betbüchlein“ an: „Worum kann ich Gott in Anbetracht des Verses bitten?“
Dieses Nachsinnen über Gottes Wort kann unser Herz erwärmen, sodass unsere Gefühle und Gedanken auf Gott ausgerichtet sind. Die Bibelmeditation zwingt uns zudem dazu, von dem bloßen Wissen zur Praxis überzugehen und uns zu fragen, was diese biblische Wahrheit, die wir da lesen, mit uns machen will, für was wir Gott danken sollen, wo wir uns ändern müssen, was für Schritte wir in unserem Alltag tun sollen.
Ich lade euch ein, dieses „vierfache Kränzlein“ für sich vor dem Einschlafen einmal auszuprobieren. Nehmt euch dafür zum Beispiel den Bibelvers der heutigen Losung oder eines der zehn Gebote und geht an ihm die einzelnen Schritte des „Vierfachen Kränzlein“ entlang, bevor ihr abschließend im freien Gebet Gott erzählt, was am Tag gewesen ist und was euch bewegt hat.